Der Flüchtlingszug


Diese Geschichte beruht auf den Tagebuchaufzeichnungen der Frau Wulff und Frau Fischer, beide aus Zehden. Ferner eines Telefonats mit dem Hrn. Gumz aus Altlandsberg und Hrn. Lindow aus Lehnin. Ein Interview mit dem Hrn. Gutsch vervollständigen die Erinnerungen. Alle vorgenannten waren als Kinder auf dem Zug. Ergänzend wird aus dem Lokmagazin 1/96 der Bericht von Dr. R. Löttgers, Kleinbahnen über die Oder und einem Brief von K.-P. Quill an W.-D. Machel zitiert. Ferner findet ein Bericht aus dem Verwaltungsarchiv der Rbd Magdeburg, Landesbahnen Brandenburg 1946 – 1948, Signatur 878 Verwendung. Weiterhin wird aus der Chronik der Kleinbahn Freienwalde - Zehden, zusammengestellt von den Herren Otto, Krautz und Rau (O.K.R.) zitiert, die uns auch mit Bildmaterial versorgt haben.
Anhand dieser Aufzeichnungen ist es uns größtenteils gelungen den Weg der Flüchtenden festzuhalten. Dazu haben wir die Karte rechts oben erstellt, die durch anklicken in einem neuen Fenster und wesentlich größer geöffnet wird. Dadurch lassen sich die geschriebenen Zeilen wesentlich besser verfolgen.
Zum Ende des zweiten Weltkrieges befand sich im Januar 1945 die Deutsche Wehrmacht unkontrolliert auf dem Rückzug. Von Westen waren die Alliierten über die Normandie weit nach Deutschland vorgerückt. Von Osten startete die Rote Armee ihre Weichsel-Oder-Operation. Am 31. Januar wurde nur 25 km südlich von Zehden ein Brückenkopf über die Oder errichtet. Die Zivilisten wie auch die Soldaten fürchteten sich vor dem Russen. Verschiedenen Berichten zur Folge soll es zu Gräueltaten gekommen sein, mit denen die russischen Soldaten gleiche Gräueltaten der Deutschen ahndeten. Zudem herrschte zu dieser Zeit bittere Kälte und Schneefall.
In dieser Situation fassten die etwa zwanzig Bediensteten der Kleinbahn Freienwalde – Zehden einen waghalsigen Entschluss. Sie wollten ihren Fuhrpark vor der anrückenden Roten Armee in Sicherheit bringen. Schnell wurde die Genehmigung der Aufsichtsbehörde eingeholt und ein Zug aus allen vorhandenen Fahrzeugen zusammengestellt. Er bestand aus den beiden Lokomotiven 04-20 und 05-20, den Triebwagen MT5 und MT401 und den Personenwagen 1 und 2. Organisiert wurde dies vom obersten Betriebsleiter des Landesverkehrsamtes Brandenburg, Landesbaurat Borchart. Nachdem der Zug mit Hab und Gut beladen war fuhr er in der Nacht vom 31. Januar zum 1. Februar in Zehden (Karte 1) mit Ziel Bad Freienwalde (Karte 2) ab.
MT401
Auf der Fahrt von Bad Freienwalde nach Hamburg haben wir unsere Heimat verloren!
Mit dieser Überschrift beginnen die Tagebuchaufzeichnungen der Fr. Fischer. Bevor sie jedoch ihre Heimat verließen führte der Weg vorbei an einem Panzergefecht bei Zäckerick (Karte 3). Ein letztes Mal wurde die Oder auf der Saldernbrücke überquert und man erreichte Bad Freienwalde. Bereits am 5. Februar war die Rote Armee in Zehden. Die Saldernbrücke (Karte 4) wurde am 9. März von den Deutschen gesprengt.  Am 27. März  überquerte die Rote Armee mit einer großen Offensive die Oder und nahm das westliche Ufer ein.
Bilder aus der alten Heimat
Am Abend des 28. März brachen die Flüchtlinge in Bad Freienwalde auf. Ihr Weg führte sie über Eberswalde und Joachimsthal bis nach Templin (Karte 5). Am nächsten Tag, den 29. März ging es weiter über Zehdenick – Löwenberg – Gransee – Fürstenberg – Neustrelitz bis Mirow (Karte 6). Über Wittstock und Pritzwalk erreichte man am 30. März Perleberg (Karte 7). Der letzte Abschnitt ging dann über Berge bis man am 31. März in Putlitz (Karte 8) ankam. Einige Männer fuhren von hier wieder nach Bad Freienwalde zurück um dort noch Züge zu fahren. In Putlitz wurde der Zug von Tieffliegern angegriffen und die Menschen mussten unter den Waggons Schutz suchen. Zum Glück wurde niemand verletzt. Am 20. April fanden sich dann auch wieder die Männer, die noch Züge in der Heimat gefahren hatten, in Putlitz ein. Mit den Männern traf auch Fr. U. Wulff hier ein, deren Aufzeichnungen weitere Erkenntnisse zu dieser Flucht aufzeigen werden.
Auch in Altlandsberg (Karte 9) wurde am 20. April ein Zug zusammengestellt. Den Erinnerungen des Hrn. Gumz, Sohn des Lokführers, entnehmen wir, dass es sich dabei um einen Lazarettzug handelte. Der Zug führte neben den Kleinbahn Personenwagen auch Güterwagen mit sich. Bei der Lok wird es sich um die 01-20 gehandelt haben, die dann später bei der Südstormarnschen Kreisbahn in Trittau abgestellt wurde um dann an die Elmshorn—Barmstedt—Oldesloer Eisenbahn übergeben zu werden. Mit diesem Zug sollten Verletzte aus dem Krankenhaus, etwa 30 Eisenbahner und Familien aus Altlandsberg und Wehrmachtssoldaten der Organisation Todt befördert werden. Zudem waren Brandenburger Eisenbahnpersönlichkeiten im Zug wie der oberste Betriebsleiter des Landesverkehrsamtes Brandenburg, Landesbaurat Borchart der gleichzeitig Aufsichtsratsmitglied der Altlandsberger Kleinbahn und der Osthavelländischen Eisenbahn AG und zeichnungsberechtigtes Vorstandsmitglied der Lehniner Kleinbahn war. Bereits auf dem Weg nach Berlin geriet der Zug in Hoppegarten (Karte 10) unter Beschuss. In Berlin Lichtenberg wurden bereits erste Tote ausgeladen. Der Bahnhof war mit zahlreichen beleuchteten Tannenbäumen ausgestattet, der Führer hatte Geburtstag…..
Die genaue Route konnte Hr. Gumz nicht mehr erinnern. In Ferch-Lienewitz (Karte 11) wurde mit Hilfe von Eimern Wasser für die Lok genommen. Demnach muss der Zug mitten durch Berlin gefahren sein um hierher zu gelangen. Immer wieder wurden Tote ausgeladen und provisorisch in der Nähe des Bahnkörpers mit Erde bedeckt. Während der Fahrtpausen wurden Lebensmittel organisiert, manchmal auch ein Rind erschossen. Mutter Gumz machte dann auf der Plattform eines Personenwagens mittels gesammelten Holz Feuer um die Speisen zuzubereiten. Ein Soldat sagte ihr das bringe Unglück. Sie antwortete sie sei nicht abergläubisch. Dieser Zug traf dann am 22. April gegen 6 Uhr auf dem Bahnhof von Lehnin (Karte 12) ein.
Am 23. April wurde bekannt, dass die Rote Armee über Beelitz (Karte 13) in Anmarsch ist. Jetzt bereitete ein Teil des Lehniner Personals die Flucht per Bahn vor. Zugestanden wurde, dass der Altlandsberger Zug und ein weiterer zusammengestellter Lehniner Zug den Bahnhof bis 14:45 Uhr verlassen können. Der erste Zug verließ Lehnin um 13:00 Uhr, der zweite um 13:30 Uhr. Um 13:45 Uhr standen die Soldaten der Roten Armee auf dem Bahnhof Lehnin.
Der Lehniner Zug bestand aus der Lok 1-60 der Brandenburgischen Städtebahn, Wagen PPBC2, C 21, 22 und 23 sowie einem mit Kohle beladenen O-Wagen. Die Wagen C 21 und 23 wurden bereits nach kurzer Zeit abgehängt. Über Groß Kreutz (Karte 14) verlief die Fahrt nach Brandenburg/Neustadt (Karte 15). Hier wurde die  Leihlok 1-60 der Brandenburgischen Städtebahn übergeben. Nur der PPBC2 und C 22 sind abgerollt (und der O-Wagen?), vermutlich an den Altlandsberger Zug gekuppelt. Dieser Zug fuhr dann über Rathenow (Karte 16) bis kurz vor Grabow (Karte 17). Unterwegs mussten immer wieder Bombentrichter beseitigt werden. Es verließen auch immer wieder Wehrmachtssoldaten den Zug, dann wurden weitere Güterwagen abgekuppelt. In Grabow gingen dann die letzten  Wehrmachtssoldaten in amerikanische Gefangenschaft. Die Fahrt ging dann weiter nach Ludwigslust (Karte 19), wo weiße Laken am Zug befestigt wurden
Nachdem die Rote Armee immer weiter gen Westen vor stieß, verließen die Flüchtlinge aus Bad Freienwalde – Zehden am 2. Mai ganz früh Putlitz und fuhren über Karstädt (Karte 18) in Richtung Grabow (Karte 17). Vor dem Bahnhof versperrte ein Flak Zug der Wehrmacht, der gesprengt werden sollte, die Weiterfahrt. Es hatten schon alle ihre Koffer gepackt um zu Fuß weiter zu gehen aber dann ging es doch weiter nach Grabow. Hier war bereits der Amerikaner, der zog sich aber vor der heran nahenden Roten Armee zurück nach Ludwigslust. In Grabow wurden dem Zug weitere Wagen angehängt (die aus Lehnin und Altlandsberg?), Fr. Wulff meint es seien auch OT (Organisation Todt) Waggons dabei gewesen. So erreichte man nach einiger Zeit und von ständigen Kontrollen begleitet Ludwigslust (Karte 19). Den Angaben des Hrn. Gutsch zufolge stand in Ludwigslust der sogenannte Hermann-Göring-Zug mit Porzellan und weiteren Luxusgütern beladen.
Alle fünf Zeitzeugen berichten von einem längeren Aufenthalt in Ludwigslust. Spätestens hier müssen sich die Züge vereint haben. Auf dem Bahnhof Ludwigslust herrschte das reine Chaos. Hier waren die KZler unterwegs und plünderten alles was sie gebrauchen konnten, auch aus zurückgelassenen Wehrmachts-zügen. Aus einem Zug beladen mit Nähmaschinen bedienten sich die Flüchtlinge und setzten diese später in Trittau in Naturalien um. Auch ein Kesselwagen mit Speiseöl wurde tüchtig entleert. Die Altlandsberger Eisenbahner halfen dem Amerikaner den Bahnhof aufzuräumen. Am 9. Mai erschien ein russischer Offizier und befahl den Zug zu räumen. Die Flüchtlinge verließen den Zug und wurden auf umliegende Häuser verteilt. 
Die meisten hausten in Kellern. Familie Wulff hatte mehr Glück und konnte bei den Leuten wo sie nun wohnten im 1. Stock ein Zimmer belegen. Hr. Lindow erinnt sich an die Lauben in denen sie wohnten.  Dieser Zustand hielt nicht lange an, denn am 6. Juni kam der Befehl den Bahnhof von Fahrzeugen zu räumen. Schnell wurden wieder alle Sachen im Zug verstaut und am 7. Juni setzte sich der Zug von Ludwigslust über Hagenow (Karte 20) nach Ratzeburg in Bewegung. Die Nacht wurde in Ratzeburg (Karte 21) verbracht.
Am 8. Juni erreichte der Zug dann über Bad Oldesloe (Karte 22) den Bahnhof Trittau der Südstormarnschen Kreisbahn (Karte 23). Hier  konnten die Lokomotiven, Triebwagen und Waggons abgestellt werden. Nachdem der Engländer die dortigen Gleise benötigte, wurde der Zug auf verschiedene Bahnhöfe der Kreisbahn verteilt. So weiß Fr. Wulff von dem Gastwirt Beth zu berichten, der sie immer mal wieder in seiner Gastwirtschaft ohne Verzehr sitzen ließ, was sie sehr nett empfand. Dies muss im Bahnhof Grönwohld (Karte 24) gewesen sein.
Familie Küter verbrachte jene Zeit zusammen mit Familie Gutsch in Langelohe (Karte 25 ) und später dann in Papendorf (Karte 26). Familie Gutsch erstand in Langelohe eine Flakbaracke, die dann 1949/1950 nach Boberg—Havighorst (Karte 27) kam, weil es in Langelohe Ärger mit Bürgermeister Sievers gab. Die Baracke stand dort 10 Jahre und wurde bewohnt. In Billstedt (Karte 28) wohnte die Familie Fischer.
Im Bahnhof Willinghusen-Stemwarde (Karte 29) fand die Familie Nathan ihr neues zu Hause. Seinerzeit wohnte meine Mutter unweit des Bahnhofs und konnte lebhafte Eindrücke der Wohnsituation berichten. So erzählte sie von Eiszapfen im Waggon im Winter und unbeschreiblicher Hitze im Sommer. Der Waggon war aber auch wohnlich eingerichtet. Vor jedem Fenster hingen Gardinen, Blumen standen auf dem Tisch. Bilder aus der alten Heimat zierten die Wände. Die Kleidung war der Situation geschuldet einfach aber ordentlich und adrett. Ein kleiner Zaun umgab ein sorgfältig angelegtes Beet. Auch die Familie Lindow wohnte hier in einem Waggon bis sie Anfang 1946 zurück nach Lehnin gingen.
Herr Gumz erinnert sich nicht mehr wo sie wohnten, allerdings bekamen sie am 5.7.1947 Post von dem Landeseisenbahnbetrieb Brandenburg. Es lag die Genehmigung aller Besatzungsmächte vor den Zug wieder nach Altlandsberg zu überführen. Als Nicht-Parteigenosse könne man dort auch wieder sofort bei der Kleinbahn eine Anstellung finden. Die Familien Gumz und Falkenthal berieten kurz und entschieden: Der Kleinbahnzug bleibt hier, wir fahren doch nicht zu den Russen zurück, vor denen wir geflohen sind!
Es wurden alle Männer bei der Kreisbahn oder benachbarten Bahngesellschaften angestellt. Die Kreisbahn durfte als Gegen-leistung dafür leihweise den Fuhrpark benutzen. Viele Frauen bekamen in Glinde (Karte 30) im ehemaligen Heereszeugamt, nun durch die Engländer verwaltet, eine Anstellung.
Bitte beachten Sie in diesem Zusammenhang den folgenden Link zur Mediathek des NDR Schleswig-Holstein Magazins.
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